Das Neonlichtsyndrom

(Dezember 2014)

Kennst du das auch? Dieses Gefühl, das innerhalb einer Zehntelsekunde aus einer unbeschwerten, energiegeladenen, selbstbewussten Frau ein absolutes Wrack macht? Eins, das sich am liebsten unter den Teppich legen würde? Das nicht einmal mehr das Telefon abheben möchte, weil es gerade in ein bodenloses, schwarzes Loch gefallen ist, und am liebsten vor sich selbst flüchten möchte – laut schreiend? Und das alles auch noch ohne Vorwarnung? Aus blitzblauem Himmel, sozusagen? Kennst du das? Ja? Dann hast du wahrscheinlich auch schon einmal Neonlicht in einem x-beliebigen Hotel-Bad erlebt. Um 7 Uhr früh. Nach einer lebhaften, feuchtfröhlichen Nacht. Du kennst es also. Willkommen im Club.Bei meiner letzten München-Reise habe ich es auch kennengelernt. Ich war also schon mehr als erwachsen, als ich mich damit auseinandersetzen musste. Mit dem Neonlicht-Syndrom.

Grundsätzlich ist mir die Badezimmerausstattung bei Kurzreisen völlig einerlei. Man benutzt das Bad zum Waschen und Duschen. Vielleicht auch zum Baden. Möglicherweise ist auch die Toilette drin. Dann auch dazu. Sinnvollerweise. Aber sonst? Sonst stelle ich keinerlei Ansprüche. Weil es mir egal ist. Das war schon immer so.Bis zu jener letzten München-Reise vor drei Wochen. Seitdem ist das anders. Denn da habe ich eine Neonbeleuchtung in einem ganz besonderen Spezial-Blauton kennengelernt. Der muss neu sein – jedenfalls ist er mir neu. Ich nehme an, dass er mit Energiesparmaßnahmen zu tun hat, aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist: der Einsatz dieses Farbtons bei Beleuchtungen sollte auf die Agenda der nächsten Konferenz für Menschenrechte kommen. Und zwar unbedingt. Mit mehreren Rufzeichen.

Am Abend davor bin ich mit meiner Tochter Marlene ausgegangen. In das indische Lokal gleich neben dem Hotel. Wir kennen und lieben es seit Jahren. Mutig habe ich diesmal ein Gericht bestellt, das als spicy gekennzeichnet war. Dazu ein Glas Weißwein. Nun gibt es in Deutschland keine Achtel oder Viertel. Nur unmarkierte Gläser. Wenn man Mengen nicht gut abschätzen kann, so wie ich, ist der Alkoholkonsum also recht unübersichtlich. Wasser habe ich auch bestellt. Das Essen wurde serviert. Und der Wein. Nur das Wasser nicht. Das Essen war gut und spicy war es auch, sodass mein Glas Wein keine fünf Minuten überdauert hat. Also bitte noch ein Glas Wein und das Wasser diesmal nicht vergessen… Irgendwie hat der hübsche Inder da etwas falsch verstanden. Der Wein stand umgehend auf dem Tisch. Das Wasser nicht. Nach dem Essen kam dann das Wasser. Da war ich schon einigermaßen gut aufgelegt und gar nicht mehr durstig.Gott sei Dank war unser Hotel gleich nebenan. Im Zimmer dann war ich derart aufgedreht, dass an Schlaf nicht zu denken war, und ich entschloss mich, noch zu lesen. Gegen 2:30 Uhr löschte ich endlich das Licht.

Am nächsten Morgen hieß es um sieben Uhr aufstehen, um unseren Termin nicht zu versäumen. Ich ging ahnungslos ins Bad und drehte das kalte Wasser auf, weil mein Kopf noch müde war. Noch bevor das kalte Wasser mit meinem Gesicht in Berührung kam, sah ich auf und in den Spiegel. Und da passierte es.

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Frau im Spiegel war nicht ich. Unmöglich. Sie war um mindestens 17 Jahre älter. Vielleicht auch 18. Dieses arme Geschöpf hatte Ringe unter den Augen, die von dem wahrhaft unvergleichlich bläulichen Schimmer des Neonlichts in Berge mit tiefen Tälern rund-herum verwandelt worden waren. In diesen Tälern lauerten schwarze Schatten. Der Stoff, aus dem Träume gemacht sind. Alpträume. Die schlimmsten.Die berechtigterweise vorhandenen, ehrlich erworbenen und tapfer bekämpften Falten waren plötzlich nicht nur doppelt so viel, sondern ganz unnötigerweise auch doppelt so tief. Das Neonlicht wirkte wie ein Ringblitz mit umgekehrter Wirkung und warf Schatten von allen möglichen Seiten, was die Falten noch mehr vertiefte. Zusätzlich verlieh dieser Blauton meinem Teint die Farbe eines Mehlwurmes. Blasser ging einfach nicht mehr. Das kleine Überbein mitten auf meiner Stirn – ein Überbleibsel eines kurzen, knackigen Treffens von Stirnbein und Autoscheibe vor vielen Jahren – warf Schlagschatten, die mich zusätzlich erblassen ließen. Jede bisher kaum sichtbare Pigmententgleisung, jede Hautunebenheit wurde überdeutlich sichtbar.  Und das, obwohl ich sie ganz bestimmt nicht sehen wollte. Schon gar nicht um diese Tageszeit und vor den Frühstück. Kurz: der Gesamteindruck war desaströs. Mein Selbstbewusstsein auch.Ich stand minutenlang wie gelähmt und wurde immer kleiner. Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt habebe, dass das Bad ebenfalls sehr klein war. Gleich neben dem Waschbecken samt Spiegel war das Klosett. Es wäre ein Leichtes gewesen, mich selbst hinunterzuspülen. So klein war ich. Einzig der Gedanke daran, dass ich das umfangreiche Frühstücksbuffet schon bezahlt hatte, hinderte mich daran.

Ich riss mich von dieser bedauernswerten Frau im Spiegel los und ging geknickt ins Zimmer zurück. Meine Tochter rockte mit rhythmischen Bewegungen rund ums Bett – zu einer Musik, die ich nicht hören konnte und mit dem Rücken zu mir. Sie bemerkte nichts von meinem Schmerz. Ich setzte mich auf den Bettrand und ließ buchstäblich alles hängen. Den Kopf, die Arme, sogar die kleinen Bäckchen, die sich offensichtlich in den letzten Jahren links und rechts von meinem Kinn zum Hals hin entwickelt hatten. Ich hatte sie eben erst im Spiegel entdeckt. Dieser Gedanke ließ mich augenblicklich das Kinn nach vorn strecken, den Hals ein wenig recken. Nächster Gedanke: wie würde ich jetzt im Spiegel aussehen? Um Gottes Willen! Also wieder locker lassen. Sollen sie doch hängen. Irgendwie komme ich mit dem Flugzeug morgen wieder nach Hause und dann geh´ ich gleich am nächsten Tag los und such’ mir ein Grab aus. Oder eine Schönheitschirurgin… Nein. Für beides fehlt mir der Mut.

In diesem Moment schaltet Marlene den Fernseher ein und ich sehe Angela Merkel eine Rede halten. Augenblicklich geht´s mir besser. Überhaupt, als sie im Profil gezeigt wird. Wow. Jetzt dreht sie sich auch noch leicht nach rechts, obwohl sie nach links spricht – die Falten am Hals! Ich komme mir unentschuldbar gemein vor, aber im Moment ist mir das Hemd verzweifelt näher als der Rock.Leider zappt Marlene gerade weiter und das nächste Bild zeigt Angelina Jolie als Lara Croft in voller Action. Mist! Das hab´ ich gebraucht. Andererseits ist der Unterschied dieser beiden Bilder derart krass und wirkt so überzogen, dass ich endlich wieder anfange, klar zu denken.

Mein kleiner roter Teufel – der, der mich so oft quält – sieht ganz keck hinter der Badezimmertür hervor. Er zeigt mir sein übersteigertes Selbstbewusstsein und fordert mich auf, es ihm gleichzutun. Wenigstens ein bisschen. Und das bewirkt, dass ich mich auf einmal ziemlich beweglich und gelenkig fühle, während ich Lara Crofts Abenteuer verfolge. Ich setze mich aufrecht auf die Bettkante, nehme die Schultern zurück und strecke den Rücken durch. So wie eben Angelina Jolie auf dem Bildschirm. Das macht augenblicklich eine bessere Figur und ich fühle mich auch schon wesentlich besser. Ich beobachte gebannt die Vorgänge auf dem Monitor. Na gut, ich kann vielleicht nicht so gut mit dem Motorrad über ein Auto springen und gleichzeitig in Schräglage mit einer Maschinenpistole eine Katzenfutter-Dose treffen. Das muss ich noch üben. Aber sonst? Wenn ich mich nicht so ganz mit ihr vergleichen kann, dann auch nur, weil meine Lippen nicht so voll sind. Mir geht es immer besser und besser. Ein kleines, zaghaftes Lächeln erscheint auf meinen völlig naturbelassenen Lippen. Meine Schwester Lara reißt gerade eben die Uzi MP2 von Ihrer Schulter, um die Übermacht ihrer Angreifer zu pulverisieren. Keine Ahnung, wie sie den Schultergurt so schnell über den Kopf hat ziehen können. Vermutlich gar nicht. Wahrscheinlich hat der eine Sollbruchstelle. Exklusiv für diese Szene. Ich mache es ihr nach, mit Schwung – Marlene macht einen erschrockenen Sprung zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, um aus meiner Schusslinie zu kommen. Irgendwie war ich insgesamt trotzdem zu langsam. Lara steht schon längst in ihrem Speedboot und schafft es mit einer winzigen Handbewegung am Lenkrad, das Boot um 180 Grad zu wenden. Sie kann das. Ich springe über die gewaltige Heckwelle federleicht an Bord. Seite an Seite stehen wir hinter der Windschutzscheibe und lächeln siegessicher. Wie Zwillinge. Eineiige. Versteht sich.

Das ist ein gutes Gefühl. Ein sehr gutes sogar. Genau genommen geht es mir ganz ausgezeichnet. Aber ich brauche jetzt noch einmal die Uzi. Nur kurz. Es wird nicht lange dauern. Ich nehme sie lässig zur Hand, gehe mit federnden Schritten und wehendem Haar ins Badezimmer, bringe sie in Anschlag, entsichere sie und kille das Neonlicht-Syndrom mitsamt seinem exquisiten Blauton.