Die Sache mit dem Wettbewerb

Da war dieser Wettbewerb für Wien und die umliegenden Städte. Ich war gerade 12. Alle Schüler in unserer Schule wurden aufgefordert, eine Geschichte zu schreiben und abzugeben. Es gab Preise zu gewinnen. Bücher, Gutscheine und Ähnliches. Ich brachte den Zettel nach Hause und legte ihn auf den alten Küchentisch mit dem Wachstuch darauf. So wie jede Nachricht aus der Schule. Meine Mutter verbesserte gerade einen Stapel Hefte, als sie aufsah. Wirklich gelesen hat die Nachricht nur meine Mutter. Am Abend kam sie mit dem Zettel in der Hand in mein Zimmer und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, meinen letzten Deutsch-Aufsatz abzugeben. Den, der der Lehrerin so gut gefallen hatte. Und ihr selbst auch. Ich war erschrocken. „Nein, nein“, sagte ich, „das ist doch nur eine Geschichte über meinen Dackel. Über Schnipfi. Das kann ich doch nicht tun. Da nehmen Schüler von der dritten bis zur achten Klasse teil. Und ich bin erst in der dritten Klasse.“ „Trotzdem“, sagte sie. Manchmal sagte meine Mutter etwas, das duldete keinen Widerspruch. Einige Tage lang redete sie mir zu, die Geschichte zu erweitern. Um das vorgeschriebene Ausmaß zu erreichen. Nicht weniger als fünf Seiten, und nicht mehr als sieben. Schließlich tat ich ihr den Gefallen und gab sie ihr. Dann vergaß ich die ganze Sache. Meine Mutter ging und schickte die Geschichte ab. Ohne dass ich davon wusste. Darum war ich auch sehr überrascht, als nach ein paar Wochen ein Brief an mich kam. Ich hatte einen Preis gewonnen. Ein Buch. Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher Stowe. Ich freute mich über das Buch. Las es in drei Tagen und weinte mich drei Nächte lang in den Schlaf. Es war meine erste Begegnung mit dem Leid und dem Schicksal der Neger in den Südstaaten. Damals sagte man noch Neger bei uns. Ich hatte bis dahin nur einen einzigen schwarzen Menschen gesehen. Ich wusste Bescheid über ihn. Er hatte sich als amerikanischer Soldat während der Besatzungszeit in Wien in eine Lehrerin verliebt und war geblieben. In Wien war das Paar angefeindet worden. Also waren sie nach Klosterneuburg gezogen, in die Kleinstadt. Die Frau unterrichtete an der Schule meiner Mutter. Wenn ich ihn zufällig auf der Straße sah, blieb ich jedes Mal stehen, wenn er vorüber war, und sah ihm nach. Weil er so schön war. In der Schule wurde es dann für mich peinlich. Im Deutsch-Unterricht las die Lehrerin meine preisgekrönte Geschichte vor und gratulierte mir – vor allen Mitschülern. Ich freute mich nicht, ich genierte mich. Das war die Geschichte meiner Liebe zu meinem kleinen Hund. Da waren viele Kinder in meiner Klasse, die hatten keinen Hund. Sie lachten darüber. Ungläubig. Mit so einer Geschichte kann man einen Preis gewinnen? Ich konnte sie verstehen. Mir selbst war es auch schwer gefallen, das zu glauben. Noch mehr lachten sie, als die Lehrerin vom Wettbewerb erzählte und auch den Titel der Geschichte der zweiten Preisträgerin an unserer Schule aus der achten Klasse erwähnte: “Shakespeare. Sein Leben und die Liebe.“ Wieviel eindrucksvoller war das als mein Titel: “Schnipfi“. Ich war wirklich froh und erleichtert, als sie das Thema wechselte.

Wochen vergingen. Dann kam wieder ein Brief. Einige prämierte Geschichten aus diesem Wettbewerb waren ausgewählt worden und die Erzähler sollten ihre Geschichten in Wien im Bundeskanzleramt vor Publikum vortragen. Aus allen Gymnasien aus Wien und Umgebung waren insgesamt 14 Teilnehmer eingeladen worden. Eine dieser Einladungen lag vor mir. Für mich kam das überhaupt nicht in Frage. Dazu war ich viel zu schüchtern. Viel zu scheu. Ich überlegte, ob ich diese Einladung nicht verschwinden lassen konnte. Habe ich schon erwähnt, dass es nicht leicht war, etwas vor meiner Mutter zu verheimlichen?So war sie. Und dann hatte sie diesen Blick. Zurückgelehnt. Ganz still. Und so voller Überzeugung. Wenn sie diesen Blick hatte, war ich hilflos. Da half einfach nichts. Gar nichts.

Wie hat sie nur meinen Vater in diesen Saal gebracht? Mein Vater. Im dunklen Anzug in einer der zahlreichen Reihen aus vielen harten Stühlen. Dabei wäre er viel lieber im Wald gewesen. An diesem Samstag. Auf der Jagd. Ganz allein – nur mit jenem Hund, über den ich reden sollte. Er räusperte sich ständig, wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war oder gerührt. Und meine Mutter saß daneben. Sie trug ihr dunkelblaues Jackenkleid. Und Schuhe mit hohen Absätzen. Die trug sie nicht oft. Damit war sie größer als mein Vater und das mochte er nicht so gerne. Und sie trug dieses Lächeln. Nicht stolz. Ruhig. Und daneben ich. Auf dem Sessel am Rand der Reihe. Ein einziges Zittern und Beben. Mit dem unermesslichen Drang, davonzurennen. Aber ohne Lizenz dazu. Den Blick auf die Bühne gerichtet und auf das Stehpult. Dort sollte ich stehen – ganz allein – und meine Geschichte vortragen? Unvorstellbar. Also doch davonrennen? „Liebst du ihn?“, raunte meine Mutter mir zu. „Wen denn?“ „Schnipfi.“ „Natürlich. Das weißt du.“ „Dann zeig ihnen das. Sag es ihnen mit deinen Worten und zeig es ihnen mit deiner Stimme.“ „Wenn ich dort oben stehen muss, werde ich mich bestimmt an kein einziges Wort mehr erinnern.“ Nur ihr Lächeln. Für mich. Ihr Lächeln war die Hand in meinem Rücken.

Zwölf Kandidaten waren vor mir. Ich war die vorletzte. Das Warten war eine Folter der Extraklasse. Ich hörte die Geschichten der anderen. Es waren wirklich gute Geschichten. Ich war voller Bewunderung. Und ich schrumpfte förmlich in meinem Sessel. Ein Bursche von etwa 15 Jahren war dabei – er war groß und dünn, mit blonden, strähnigen Haaren. Er hob den Blick nicht, sah nur auf sein Heft auf dem Pult. Er sprach leise und gegen Ende zu war kaum mehr als ein Flüstern zu hören. Ich starb fast für ihn. Als er vom Podium stieg und an mir vorbei ging, mit einem seltsam wilden Blick in seinen Augen, sah ich Tränen darin schimmern. Ein anderer sprach viel zu schnell. Er überholte sich selbst beim Reden, bis sich seine Stimme überschlug. Dann stockte er, sah ratlos und verzweifelt auf das Pult und wusste nicht mehr weiter. Blätterte im Heft vor und zurück. Fing schließlich nochmal von vorne an. Auch für ihn litt ich Höllenqualen. Die Knöchel meiner Finger waren weiß, so fest umklammerte ich die Armlehnen. Vor mir dann schließlich das 18-jährige Mädchen aus meiner Schule, das über Shakespeare sprach. Sie warf ihren Kopf ständig hin und her, sodass ihre schulterlangen, blonden Haare nur so flogen. Soll ich meine Zöpfe auch hin und her werfen? Nein, die Zöpfe sind zu lang. Sie sprach lebhaft. Das war gut. Ich werde nie können, was sie kann. Sie sprach deutlich und gut verständlich. Ich darf nicht leiser werden. Und auch nicht zu schnell. Sie breitete die Arme aus für Shakespeare – vielleicht auch für das Publikum – als sie den letzten Satz sprach. Meine Hände!!! Was soll ich mit meinen Händen machen??? „Edith Goller. 3b aus Klosterneuburg.“ Der Weg nach vorn war endlos. So alleine. Zwei Stufen. Nur nicht stolpern. Das Heft auf das Pult legen. Aufmachen. Den Finger auf die Zeile legen – dann hat er etwas zu tun. Lieber Gott! In meinem Leben war ich noch nie so einsam. In meinem Nacken sind Haare. Die habe ich bisher noch nie gespürt. Aber jetzt fühle ich deutlich, dass sie sich sträuben. So viele Menschen – und ich. Aber ich bin auf der falschen Seite! Ich bin zwölf. Warum habe ich immer noch Zöpfe?
„Mein Dackel heißt Schnipfi.“„Lauter“, sagte einer aus der ersten Reihe. Husten von weiter hinten. Meine Wangen brannten.

– – Liebst du ihn? – Dann zeig es ihnen. – –

„Mein Dackel heißt Schnipfi. Er ist mein erster Hund. Er ist ein Rauhaardackel und ich weiß, dass ich ihn liebe. Ich werde Ihnen erzählen, warum…“

Irgendwann war ich fertig. Irgendwann hörte ich Beifall. Eine Frau rief „Bravo“. Wer war sie?Durch einen nebeligen Tunnel ging ich zu meinem Platz zurück, hölzern, schlenkernd wie eine Marionette. Eine, deren Fäden zu lose gehalten werden.

Dass ich den zweiten Preis gewonnen hatte, interessierte mich nicht so sehr. Ich hatte überlebt. Shakespeare landete auf Platz 12.