Die Vergangenheit in meiner Küchenlade

1994 bin ich in dieses Haus eingezogen, in dem wir leben. Elf Monate lang schaute ich zu, wie es entstand, wie es wuchs, Gestalt annahm und vier Tage vor Weihnachten zogen wir ein. An diesem Tag begann ich auch die Küchenlade zu füllen, nehme ich an – die ganz links beim Eckfenster. In den 26 Jahren, die seither vergangen sind, habe ich wohl unzählige Male etwas herausgenommen und auch hineingelegt. Es war die Lade für Sonstiges, denn für Besteck, Kochutensilien und so weiter gibt es eigene Laden. Die Dinge, die diesen Laden nicht eindeutig zugeordnet werden konnten, die aber sicher wichtig waren und irgendwann gebraucht werden würden, kamen in diese Lade unter dem Fenster.

Gestern wollte ich es etwas herausnehmen und konnte die Lade nicht öffnen. Irgendetwas hatte sich verspreizt darin. Ich versuchte es verbissen mit einem Messer, mit chinesischen Essstäbchen, mit einer Tortenspachtel. Endlich konnte ich sie aufziehen und musste zugeben, dass sie einfach zu voll war. Zeit, auszusortieren.

Es war Sonntag, ein prachtvoller, friedlicher und sonniger Frühlingsmorgen. Ich trug die Lade also hinaus auf die Terrasse, stellte sie auf den Tisch, den Mülleimer neben mich und machte mich daran, wegzuwerfen, was ich in mehr als zwei Jahrzehnten gesammelt hatte und sicher nicht mehr gebrauchen würde.

Soll ich zugeben, dass ich den ganzen Vormittag damit verbracht habe? Dass die Sonne in dieser Zeit von einem Ende der Terrasse bis zur Mitte wanderte und ich vollkommen in Erinnerungen versank? Dass ich dreimal Kaffee gekocht habe und manchmal minutenlang wie entrückt saß? Warum nicht?

Es war klar, dass ich offensichtlich immer alles vorne hineingelegt und mit der Zeit zurückgeschoben hatte, bis die Lade endgültig randvoll war. Nachdem ich also alle Dinge, die ganz vorne lagen, als durchaus noch brauchbar in eine Schachtel gelegt hatte, begann ich neugierig von hinten. Weil ich wissen wollte, was mir vor 26 Jahren wichtig erschienen war.

Ein winziger Plastikschuh erregte meine Aufmerksamkeit. Ich nahm ihn in die Hand und wusste gleich, wo sich der kleine Zwerg im Schrank befand, dem er gehörte. Einer der sieben Zwerge von Schneewittchen aus der Barbie-Serie, die meine Tochter so liebte, als sie sechs Jahre alt war. Wie oft haben wir Schneewittchen und die sieben Zwerge hinausgetragen auf die Terrasse, um dort zu spielen? Wie oft haben wir ein Brett der Terrasse losgeschraubt, weil einer der Schuhe durch einen Spalt gefallen war? Die Rollenspiele fielen mir ein und dass es die Zwerge waren, die als erste ins Whirlpool durften, als wir eins bekamen… Zumindest ein Zwerg ist noch da – ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn wegzugeben. Als Nächstes hielt ich ein sehr kleines, leeres Marmeladeglas in der Hand. Ich überlegte, warum ich das wohl aufgehoben hatte. Mit einer Lupe – praktischerweise lag sie gleich daneben – versuchte ich, die schon recht abgeschabte Beschriftung zu lesen. Confiture d`oran… war alles, was ich entziffern konnte und doch fiel mir ein, dass ich dieses Glas in Avignon gekauft hatte – auf einem Marktstand in der Nähe der berühmten Brücke, die schon viele besungen haben. Es war die beste Orangenmarmelade, die ich je gegessen habe. Darum hatte ich das Glas aufgehoben.    Ein paar Sektkorken, deren Beschriftung schon längst verblasst war. Überbleibsel von Festen, die ich so genossen hatte, dass ich irgendetwas davon bewahren wollte – und wenn es nur ein Korken war. Etliche Ladekabel, deren Enden verrieten, dass sie zu Geräten gehörten, die es sicher nicht mehr gab, wanderten in den Mistkübel, gefolgt von Muttern, Schrauben und Verschlüssen und kleinen Halterungen, wie man sie gelegentlich findet und sich nicht traut, sie zu entsorgen – in der Gewissheit, dass man sie hundertprozentig schmerzlich vermissen wird, und zwar nur wenige Tage, nachdem der Müll abgeholt wurde. Alles schon passiert – das kennt wohl jeder. Aber nachdem ich sie nun offenbar so lange nicht vermisst habe, liegt der Verdacht nahe, dass ich das auch nicht mehr tun werde. Weg damit!

Drei Puzzle-Teile unterschiedlicher Größe, die verraten, dass sie zu verschiedenen Bildern gehören, erinnerten mich daran, dass Marlene im Alter von 8-10 es liebte, sich stundenlang völlig selbstvergessen damit zu beschäftigen, während sie Musik aus ihrem geliebten MP3 Player hörte. Wie grenzenlos enttäuscht sie war, wenn am Ende ein Puzzle-Teil fehlte und das Bild nicht vollständig war. Kein Wunder, dass ich jedes Teilchen aufhob, wenn ich eines fand. Eine Eintrittskarte in ein schottisches Schloss in der Nähe von St. Andrews ließ augenblicklich die meterhohen Rhododendronbüsche vor meinem inneren Auge auftauchen, die dort – über und über voller Blüten – als Hecken den Park begrenzten. Ein Wunder, das mich lange nicht weitergehen ließ. Eine Eintrittskarte war es, die diese Bilder wieder zum Leben erweckte. Ich werde sie nicht mehr brauchen, das ist gewiss, aber wegwerfen kann ich sie auch nicht, denn sie liefert Bilder der Erinnerung, die ich nicht missen möchte.

Viele weitere kleine Dinge förderte ich zutage – nutzlos für den Alltag, nicht wirklich brauchbar, aber wertvoll. Ein halbes Leben in einer Küchenlade. Sie bescherten mir einen Vormittag, der so reich an Gedanken und Erinnerungen an schöne Momente war, dass ich ihn über die Maßen genoss.

Unnötig, zu erwähnen, dass viele dieser Dinge wieder in der Lade landeten. Sie ist noch immer voll. Aber sie lässt sich jetzt mühelos schließen. Ich werde ein paar Jahre vergehen lassen, bevor ich mir zum nächsten Mal einen solchen genussvollen Vormittag gönnen werde. Heute ist diese Küchenlade ganz links beim Eckfenster zu etwas ganz Besonderem für mich geworden – zu einer Eintrittskarte in die Vergangenheit.