Mein Freund in Jordanien
Der Himmel ist heute Morgen von einem unglaublich hellen Blau. Mitten hindurch zieht sich das gerade Band einer hellgrauen Wolke. Über den ganzen Himmel, ohne Anfang, ohne Ende. Wie eine trockene Sandstraße durch einsames Land.So wie die Straße durch Wadi Rum. Damals. In Jordanien…
Hilflos sah ich die staubige Linie der Piste verschwinden, während mein junges, übermütiges Kamel – ein schönes Tier – unbeirrbar in entgegengesetzter Richtung lief. Ich hatte den Zügel verloren. Er hing unerreichbar tief jenseits des Tales, das sein Rücken und sein Hals bildeten, zwischen dem Sattel, auf dem ich saß, und seinem eigensinnigen Kopf. Meine Reisekameraden, die mich mitgenommen hatten auf diese Reise – der Archäologie-Professor und seine Studenten – waren so sehr mit ihren eigenen Kamelen beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkt hatten, dass mein Tier durchging. Der Jordanier in seiner weißen Galabia und dem rot-weißen Kopftuch, der die Tiere verlieh, auch nicht. Er hatte mich einfach als Erste auf das kleinste Kamel gesetzt und sich dann um die anderen gekümmert. Während jedoch die anderen Kamele offenbar lammfromm und geduldig standen, brachte mich meines mit einer Links-Rechts-Wechselschritt-Kombi gehörig in Schwierigkeiten auf seinem Rücken. Ich wollte mich nicht schon wieder blamieren, indem ich nun auch noch vom Kamel fiel vor den anderen. Nicht zweimal hintereinander, dachte ich. Mir steckte noch die Blamage vom Vortag in den Knochen. Da hatte ich bei der Besichtigung eines antiken Theaters mit einer harmlosen Frage meine mangelhaften Geschichtskenntnisse bloßgestellt. Der Professor hatte mich erst sprachlos angesehen und dann teils hilflos, teils ärgerlich gesagt: „Das kann ich nicht beantworten, wenn jegliche Grundlage fehlt, weil ich nicht weiß, wie weit ich ausholen muss.“ Ich hätte mich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen in diesem Moment. Später dann machte ich mir klar, dass ich die Einzige in der Gruppe war, die absolut nichts mit der Studienrichtung Archäologie zu tun hatte. Danach fühlte ich mich besser. Trotzdem war genau das der Grund, warum ich nicht durch Rufe auf mich aufmerksam machen wollte, als das Kamel – nun wieder mit normalen Schritten – hinter das große Zelt schlenderte, das neben der Piste stand und seinem Besitzer Schatten spendete, während er darauf wartete, dass die Leute, die seine Kamele gemietet hatten, wieder zurückkamen von ihrem Ritt durch Wadi Rum. Hinter dem Zelt waren wir aus der Sicht der anderen. Und dann glitt mir der Zügel aus der Hand. Mit seiner Hilfe wollte ich das Kamel zurücklenken, doch es warf den Kopf übermütig auf und hin und her und da passierte es eben. Das Kamel trottete davon. Ich konnte mir nicht helfen – schließlich bin ich nicht Laurence von Arabien.
Ich verlor die Straße aus den Augen. Die Wüste schluckte meine Rufe. Das Tier lief seltsam zielstrebig und ich gewöhnte mich langsam an den schwankenden Ritt. Die Farben des bereits fortgeschrittenen Nachmittags tauchten das weite Wüstental mit seinen spektakulären Felsformationen in atemberaubende Farben. Sie machten die Kargheit der Vegetation mehr als wett. Wir näherten uns den Felswänden, die das Tal auf der einen Seite begrenzten. Vor der fast senkrecht aufragenden Steinwand blieb das Kamel stehen und senkte den Kopf, um an einigen stacheligen Gräsern zu zupfen. Wenn ein Kamel Kopf und Hals senkt, ist der Reiter augenblicklich ziemlich unstabil. Für kurze Zeit war ich sehr mit meinem Gleichgewicht beschäftigt. Nur sitzen bleiben, nicht absteigen – ob freiwillig oder unfreiwillig –, dachte ich, sonst finden sie mich nicht…
Das Kamel ließ sich Zeit. Ich, auf seinem Rücken, war zur Untätigkeit verurteilt. Ich betrachtete die Felswand vor mir und es fiel mir die Geschichte von Ali Baba und den 40 Räubern ein. Aus 1001 Nacht. Ich richtete mich auf im Sattel. Gebieterisch hob ich meinen Arm. „Sesam öffne dich.“ Nichts geschah. Ich war doch einigermaßen enttäuscht. Wenn man sich in einer derart unerwarteten, magischen Situation befindet, dann kann man schon erwarten, dass auch etwas Unerwartetes, Magisches passiert. Ich persönlich hätte mich absolut nicht gewundert, wenn sich die Felswand vor mir aufgetan hätte. Wenn sich dahinter Schätze vor mir ausgebreitet hätten. Andererseits – was wäre, wenn Ali Baba und seine Gang dahinter warteten. Nicht so gut. Vielleicht war es also besser so.
Ich warf einen Blick zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren, mein Kamel und ich. Das Tal in seiner verwunschenen Schönheit lag so still. Die Schatten waren länger geworden. Wie mochte wohl eine Nacht hier sein? Wie mochte das Tal aussehen im Licht von Mond und Sternen? Es musste atemberaubend sein. Trotzdem fragte ich mich besorgt, wie lange es dauern würde, bis sie mich suchten. Und fanden.
Mein Magen begann zu knurren. Ich bekam Hunger, während ich das Kamel beobachtete, wie es hingebungsvoll an dornigen, kargen Gewächsen knabberte. Ich griff in meine Umhängtasche. Vom Frühstück hatte ich eine Orange mitgenommen. Da saß ich also nun, in schwarzer Hose, schwarzem T-Shirt mit langen Ärmeln – der Sonne wegen – und einem schwarz-weißen Palästinenser-Tuch um den Kopf geschlungen, auf meinem Kamel und schälte eine Orange. Ein Stück der Schale fiel auf den Boden und das Kamel fraß es gierig. Es inhalierte es förmlich. Das verband uns auf seltsame Weise.
Das Kamel – ich nannte es inzwischen Ali – streunte noch eine Zeit lang mit mir am Rand der Felsen herum. Zeigte mir ein paar sehr dekorative Steinpyramiden, Pflanzen, die ich noch nie gesehen hatte, viel Sand und vor allem das Licht. Das unglaubliche Licht und die Vielfalt der Farben der Wüste, die ständig wechselten. In dieser Stille dachte ich daran, dass ich diesen Eindruck wohl kaum so eindringlich aufgenommen hätte, wenn ich im Tross mit meiner kleinen Reisegesellschaft geritten wäre. Ich ließ meine Blicke schweifen und beschloss, jede Sekunde dieser erzwungenen, doch plötzlich begrüßten Einsamkeit zu genießen.
Dann kam eine langgezogene, keilförmige Staubwolke ziemlich schnell auf mich zu. Als sie näher kam, sah ich, dass an ihrer Spitze ein Jeep brauste. Sie hatten mich gefunden. Für einen kurzen Moment lang erstaunte ich mich selbst, weil ich nicht nur erleichtert, sondern auch betrübt war.
Ich möchte diese einsame Stunde im Wadi Rum nicht missen.
Ich habe einen Freund in Jordanien. Er heißt Ali. Ich bin ihm sehr dankbar.