Eine Stimme wie 100

Sommerfrische in Altaussee. Acht Uhr früh. Schon seit vier Tagen bin ich hier – bei ungetrübt sonnig warmem Wetter, in einem kleinen, abgelegenen Bootshaus direkt am See.

Als mein iPhone läutet, schäle ich mich träge aus der Bettdecke und gehe hinaus auf den geräumigen, überdachten Balkon, denn dort habe ich gestern Abend das Telefon auf dem Tisch liegen lassen. Vor mir liegt der See glatt wie Glas im Morgenlicht. Der Berg am gegenüberliegenden Ufer spiegelt sich mit scharfen Konturen im klaren Wasser und sein markanter Felsgipfel berührt in seinem Spiegelbild fast das Ufer direkt unter mir. Es ist absolut still – abgesehen von meinem Telefon. Es spielt hartnäckig den Titelsong von Mission Impossible.Immer noch verschlafen, nehme ich den Anruf an, obwohl der Anrufer seine Nummer unterdrückt hat. In erster Linie tue ich das, damit es aufhört, diese fordernde Melodie zu spielen, und weil ich noch nicht so richtig wach bin.„Hallo“, sage ich und muss mich sofort räuspern. Meine Stimme ist belegt und zittert – kaum zu erkennen. Kein Wunder, denke ich. Der gestrige Abend drüben im Restaurant des Strandcafes war lang. Mehrere Stunden lang haben wir gegessen, getrunken, dem langen Sonnenuntergang zugesehen und danach dem ständig wechselnden Licht über dem See, während an der Hausmauer drei Musiker Jazz vom Feinsten zum Besten gegeben haben. Ein Saxophon, eine Gitarre und ein Bass. Sie spielten Klassiker und für eine Getränke-Runde an die Band spielten sie mir auch „Nature Boy“… Und als es schließlich wirklich schon sehr spät war und die letzten Gäste aufbrachen, kam der Wirt mit einer Flasche Wein und setzte sich zu uns, weil wir einander jetzt schon seit einigen Jahren kennen. Und das war nett – da sagt man nicht nein.Kein Wunder also, dass meine Stimme noch Zeit braucht, um zu sich zu finden. „Hallo“, höre ich nun, „Hallo Edith, hier ist Werner.“Werner… überlege ich. Welcher Werner?Mir wird bewusst, dass mein Denken noch ziemlich langsam ist und das macht mich verlegen. Hilfesuchend schaue ich übers Wasser hinüber zum Dorf, zur Kirche am Ufer. So als ob dort Erkenntnis zu finden wäre. Dann schaue ich zur anderen Seite, zum Strandcafe, das ruhig und friedlich im Morgenlicht liegt. Das einzige, was sich derzeit dort bewegt, sind zwei Fahnen am Steg, eine steirische und eine österreichische.Werner – welcher Werner?

„Edith?“, sagt dieser Werner, weil ihm die Pause zu lange dauert.„Werner?“, frage ich mit einer Stimme, die noch immer so zittert, dass sie klingt, als sei ich 100.„Ja, genau“, sagt er begeistert. „Tut mir leid, dass ich dich so früh störe, aber ich bin wirklich in einer Notlage.“ So. Eine Notlage. Ich sollte aufwachen, denke ich. Irgendwie bin ich auf der Hut.„Was für eine Notlage denn?“, frage ich. Einer Eingebung folgend, lasse ich meine Stimme ganz bewusst, wie sie ist. Soll sie doch zittern und belegt sein. Bei der nächsten Wortmeldung lasse ich sie noch brüchiger klingen, beschließe ich.

„Ich bin in Italien“, sagt mein Anrufer, „mit dem Auto. Ich wollte runterfahren bis Apulien und mich dort mit Freunden treffen. Aber heute Nacht bin ich ausgeraubt worden – alles weg. Stell dir das vor! Alles! Auto weg, Gepäck, Geld – alles eben!“ Die Worte Italien, Apulien, Freunde und so weiter purzeln durch meinen Kopf, der noch immer beschäftigt ist mit Aufwachen. Außerdem denke ich noch immer darüber nach, wer Werner sein könnte. Ich habe keine Geschwister, aber viele Cousinen und Cousins und noch viel mehr Neffen und Nichten. Mehr als dreißig habe ich einmal gezählt. Da ist vielleicht auch ein Werner darunter, der mir jetzt nicht einfällt, weil der Abend gestern so schön und lang und feuchtfröhlich war…

Andererseits fällt mir ein, dass am Tag nach dem Begräbnis meines Vaters vor sechs Jahren, zu dem sehr viele Verwandte aus mehreren Ländern angereist kamen, meine Mutter einen Anruf erhielt von einem Karl, der vorgab, ihr Neffe zu sein und nach dem Begräbnis nach Hause fahren zu wollen – jedoch habe er sein Geld verloren…An diesem Tag damals gab es viele Anrufe von Leuten, die nicht kommen konnten und daher telefonisch ihr Beileid ausdrücken wollten. Ich saß gerade daneben und sortierte Briefe. Ich hörte sie sprechen, wurde aber erst aufmerksam, als sie sagte: „Wieviel Geld brauchst du denn, um nach Hause zu fahren?“ Da übernahm ich das Gespräch und wollte ihm tüchtig meine Meinung sagen, aber er bekam nicht viel davon mit, denn er legte sehr schnell auf, als er meine Stimme hörte.

Der Neffentrick also. Und diesmal bin ich dran.

Wie geht dieser Bursche vor? Woher hat er meine Telefonnummer? Woher meinen Namen? Nur beim Alter hat er sich ein wenig vertan bei seiner Recherche, falls er überhaupt eine gemacht hat. Ich bin erst 66. Und nicht 90. Meine Stimme klingt vielleicht wie 100, aber nur heute. Wegen gestern Abend.Und das ist der Punkt, der mich nun nicht mehr loslässt: Du hältst mich für alt, Bürschchen. Und zwar für älter als ich bin. Das ist gut. Na, warte!Hätte mich dieser Anruf zu Hause erreicht, ich hätte wahrscheinlich einfach aufgelegt. Aber der Anblick des spiegelglatten Sees vor mir in seiner ganzen Pracht hat mich schon immer beflügelt. Er tut es auch heute.

„Ach, Werner“, flöte ich daher ins Telefon und lasse meine Stimme so brüchig klingen wie nur irgend möglich. „Was für ein Glück, dass du anrufst. Ich brauche deine Hilfe!“ Es bleibt für einen Moment still am anderen Ende.„Du brauchst Hilfe?“, fragt er dann verblüfft.„Ja, Werner. Meine Pflegerin hat sich gestern den Fuß gebrochen und ist ins Spital gebracht worden. Jetzt bin ich ganz allein in dem großen Haus.“„Oha“, sagt er.„Nicht einmal Frühstück habe ich bekommen, weil keiner da ist. Und niemand geht einkaufen.“ Ich bin richtig stolz auf mich. Ich weiß jetzt, wie ich meine Stimme zittern lassen kann, dass er die Gebrechlichkeit förmlich spüren muss.Nach einer längeren Pause höre ich ihn sagen: „Hast du keine Nachbarn?“ Seine Stimme klingt sehr zögerlich.„Aber Werner“, zittere ich weiter, „weißt du denn nicht mehr, wo ich wohne? Draußen vor der Stadt, mitten in den Feldern?“„Das ist schon so lange her, Edith…“, sagt er und ich kann direkt greifen, wie er zu überlegen beginnt.„Ich wäre dir so dankbar“, jammere ich weiter, „wenn du herkommen könntest. Ich gebe dir Geld und du gehst mir einkaufen, ja? Und dann gebe ich dir einen Scheck und du holst dir selbst das Geld von der Bank. Damit du auf Urlaub fahren kannst.“„Es gibt keine Schecks mehr“, sagt er langsam.Er hat brav mitgedacht. Die Idee mit den Schecks hat sich gelohnt.„Na ja, dann kann ich doch bei der Bank anrufen, dass sie dir das Geld geben sollen. Sie kennen mich noch von früher. Ich war zwar länger nicht dort, aber das wird schon gehen.“ Jetzt bleibt es still.„Werner?“„Ja, ja, ich bin noch da“, sagt er schnell, „ich überlege nur.“ Er scheint lange zu überlegen.„Ich habe wirklich Hunger“, lege ich nach. „Soll ich dir noch einmal die Adresse geben, damit du herfindest? Es ist ja wirklich schon lang her, dass du mit deiner lieben Mutter bei mir warst…“ Habe ich jetzt übertrieben? Bin ich glaubwürdig mit meiner 100-jährigen Stimme?

In diesem Moment zerreißt ein grelles Geräusch die Stille am See und holt mich aus meinem Lügenkonstrukt zurück in die Wirklichkeit.In Altaussee sind nur Elektroboote auf dem Wasser erlaubt. Das erste habe ich vor ein paar Minuten vorbeigleiten gesehen. Es war eine Plätte mit einem schmalen, weiß gedeckten Frühstückstisch in der Mitte, an dem zwei Urlauber saßen – beide in Tracht gekleidet. „Frühstück auf dem See“ nennt sich dieses Angebot und es ist sicher schön, sich am frühen Morgen über den See fahren zu lassen und dabei zu frühstücken. Bei der zweiten Schicht der Fahrt allerdings haben die Gäste schlechte Karten, denn gegen neun Uhr taucht die Sonne den See schon in gleißendes Licht. Da kann es heiß werden unter den Strohhüten und die Semmeln müssen schnell bestrichen werden, bevor die Butter zerrinnt…Das einzige Boot, das hier mit einem Motor betrieben werden darf, ist das Feuerwehrboot. Es ist ein Speedboot und fährt jeden Tag abends eine Runde über den See. Jetzt ist es Morgen und es fährt trotzdem. Das bringt meinen vorgetäuschten Aufenthalt in einem einsamen Haus inmitten von Feldern gehörig ins Schleudern.

„Was ist das für ein Geräusch?“, höre ich Werner auch schon fragen.„Da kommt ein Mähdrescher über den Weg daher…“, lüge ich. „Ich sitze am Fenster, weißt du?“ Es hat geklappt, denn er ist offenbar so beschäftigt mit der Überlegung, ob er sich Geld von mir holen soll, dass er das Motorboot leichthin für einen Mähdrescher hinnimmt. Zum Glück hat das Boot abgedreht und ist nicht mehr zu hören. Der See liegt wieder still vor mir.

„Also, wie ist die Adresse nochmal?“, fragt er nun.Er hat sich entschieden.„Hadersfeld, Bürgermeisterweg“, sage ich verwegen.Ich muss mich nicht fragen, ob es womöglich einen solchen Weg gibt und ob ich die Bewohner dort in Schwierigkeiten bringen könnte, denn ich weiß schon, wohin ich das Gespräch leiten möchte.„Hadersfeld liegt bei Klosterneuburg, den Berg hinauf – weißt du noch?“, füge ich hinzu.„Und welche Nummer?“, fragt er.„Aber Werner!“ Ich bringe ein abgehacktes, löchriges Lachen zustande – und das ganz ohne Schauspiel-Studium. „Es ist doch das einzige Haus da. Da gibt es keine Nummer…“„Ach so.“„Wirst du kommen, Werner? Wirst du für mich einkaufen gehen?“ Ein letztes Mal noch zögert er: „Was ist, wenn die Pflegerin in der Zwischenzeit zurückkommt?“„Das glaube ich nicht“, versetze ich, ohne lange nachzudenken, denn ich habe mich schon warm gelaufen mit dem Schwindeln. „Die Notärztin hat gesagt, sie muss ein paar Tage im Spital bleiben.“„Gut“, sagt er langsam, „dann komme ich. Und ich gehe einkaufen, wenn du mir Geld gibst.“ Jetzt tut er mir für einen Moment leid. Weil er auf mich hereingefallen ist. Ich gebe ihm noch eine Chance, obwohl er die gar nicht verdient.„Wie lange wirst du denn brauchen, bis du hier bist?“, frage ich.„Na ja, eine Stunde werde ich schon brauchen“, überlegt er laut.Ich zähle lautlos bis drei.„Und wie kommst du von Italien hierher?“, frage ich scheinheilig und mache die Falle zu.Ich höre ihn scharf die Luft einziehen. Dann höre ich ein Gurgeln.Jetzt ist er 100. Nicht ich. Ich bin wieder 66.„Also, das ist doch…“, höre ich.

Dann klickt es und Werner hat mein Leben verlassen. So soll es auch bleiben. Ich habe Gleiches mit Gleichem vergolten. Hoffentlich denkt er jetzt wenigstens darüber nach, was er da so tut.

Ich schicke einen Blick rund um den herrlichen See zu meinen Füßen. Die ersten Sonnenstrahlen blinzeln schon hinter der Trisselwand hervor und legen sich über das glatte Wasser. Hier kann man sogar Gemeinheiten gelassen sehen, denn sie sind draußen in der Welt – nicht hier. Mit einer kleinen Handbewegung schalte ich mein Telefon auf lautlos, um die Welt draußen auszuschließen – für diesen einen stillen Morgen.

Ich werde Kaffee kochen. Das wird meiner Stimme wieder auf die Sprünge helfen.