Die Winternacht und andere Wintergeschichten

Erzählungen von Edi Goller

Sechs Kurzgeschichten entführen in ebenso viele verschiedene Schicksale, die sich in einer Winternacht entscheidend verändern. Sie entführen uns nach Wien und St. Petersburg, ins Salzburgerland, nach Deauville, in die Wachau und ins Weinviertel.

Inmitten kalter Temperaturen wollen sie unterhalten und wärmen und die Hoffnung aufzeigen, die nie erfrieren soll.

Buchcover Schokolade und Stein - Edi Goller

Leseprobe

Aus der Erzählung Die Winternacht:

…Einladungen der Kinder gab es genug. Einmal im Jahr besuchte die alte Baronin ihre Tochter in Washington, war Granny für zwei Wochen und ging täglich staunend durch die Flucht an hohen Räumen in dem eleganten Stadthaus. Dinnergesellschaften gab es da – bis zu zwanzig Menschen aus aller Herren Länder, in allen Hautfarben. Eines Abends fand sie sich zwischen einem japanischen und einem türkischen Diplomaten am Tisch. Das Englisch der beiden verstand sie nicht. Sie verstummte und beobachtete die anderen, lauschte dem Auf und Ab ihrer Stimmen und der Musik ihrer Unterhaltung, bewunderte ihre Tochter, die gelassen wirkte und sich in diesem Kreis wohl zu fühlen schien, genoss die Vorspeisen, winzige, exotische Häppchen, auch noch das Sorbet nach dem Fischgericht. Dann sagte der elegante Türke neben ihr – in seinem Versuch, ein Gespräch zu beginnen – ein Wort, das einem deutschen Schimpfwort sehr ähnlich klang. Und da war es plötzlich genug. Sie lächelte verletzt und gleichzeitig amüsiert, tätschelte dem verdutzten Japaner zu ihrer Rechten die Hand, würdigte den noch verdutzteren Türken zu ihrer Linken keines Blickes und machte sich davon. Sie suchte und fand die Küche und darin die aus Puerto Rico stammende Köchin. Ihr Englisch verstand sie ebenfalls nicht. Aber sie standen beide in einer Küche und verstanden einander ohne Worte…

Aus der Erzählung Dimitris Tarnkappe:

…Zu dritt fuhren sie mit dem Lift bis in den Keller, wo sich die Tiefgarage des Hotels befand. Als sich die Lifttüre öffnete, ging Sergej, der Bodyguard vor ihm, einen Schritt hinaus, stand dort einige Zeit und trat dann wieder zurück in den Lift.„Ein Wagen blockiert die Ausfahrt“, sagte er stirnrunzelnd über Dimitris Schulter hinweg zu dem Mann hinter ihm. „Panne. Wir gehen durch die Lobby.“Er sprach leise in sein Mikrophon und beorderte den Wagen zum Haupteingang. Dimitri war es recht. Er fühlte sich sicher. Er war es gewohnt, abgeschirmt zu werden, aber mit Sergej hatte er sich einen der Besten geholt. Zusätzlich. Igor hinter ihm war schon sehr lange bei ihm, ebenso wie Michail, der in der Suite zurückgeblieben war. Und auch Wladimir, der Fahrer.Der Aufzug fuhr sie wieder hinauf. Als sich die Lifttüre erneut öffnen wollte, unterbrach Sergej manuell den Vorgang.„Der Wagen ist noch nicht am Haupteingang. Wir warten hier.“Dimitri fand das übertrieben. Doch zu seiner Überraschung beschlich ihn ein kribbelndes Gefühl, das ihm neu war. Er beschloss, nun an das Meeting zu denken und alles andere seinen Bodyguards zu überlassen.Bei diesem Meeting würde er seinem Konkurrenten zum ersten Mal persönlich gegenüberstehen. Nicht allein natürlich. Jeder mit seinem Stab. Seit der andere ganz offen zu seinem Widersacher geworden war, hatte er eine ganze Menge über ihn erfahren. Er war neugierig auf ihn. Nach wie vor konnte er nicht verstehen, warum dieser sich so vehement gegen seinen Einstieg ins Transportwesen wehrte. Mein Gott, es ging nur um Transporte – nicht etwa um Gas oder Telekommunikation…Sergej hielt seinen rechten Zeigefinger ans Ohr, horchte angestrengt, dann nahm er den anderen Finger vom Türschließer und gab die Türe damit frei. Als sie langsam zur Seite glitt, sah Dimitri etliche Leute davorstehen und zwischen ihnen sah er hinaus in die belebte Lobby des Hotels. Auch hier so viel Golddekor, dachte er.Sergej drehte sich kurz zu ihm um: „Wir gehen schnell durch“, sagte er eindringlich, „bleiben Sie dicht hinter mir.“Er schuf eine Gasse durch die Wartenden und schlug einen raschen Schritt an. Für einen Moment grinste Dimitri in sich hinein. Er kannte Sergejs harten, stechenden Blick bereits. Er konnte sich schon vorstellen, dass die Leute bereitwillig vor ihm zur Seite wichen. Dimitri folgte ihm und spürte Igor dicht hinter seinem Rücken.Aus den Augenwinkeln nahm er das Treiben in der Lobby wahr, das Summen der Stimmen in vielen Tonlagen, ein helles Lachen perlte von der Rezeption herüber. Eine aufgeregte, angeregte Atmosphäre. Reisende aus aller Herren Länder, Touristen, die sich St. Petersburg im Winter ansehen wollten und die wohlhabend genug waren, sich dieses Hotel zu leisten, das die Nummer eins am Platz war. Für einen Moment bedauerte er es, dass er dieses lebhafte Treiben nur so kurz erleben konnte. Er selbst kannte nur die Abgeschiedenheit seiner Suite, wo er am letzten Abend mit Beratern und Assistenten gesessen war, nachdem sie über das bevorstehende Meeting gesprochen und eine Taktik festgelegt hatten. Danach waren Blinis und Kaviar serviert worden und es wurde getrunken. Er hatte sich bald in sein Schlafzimmer zurückgezogen.Sergej streckte plötzlich seinen rechten Arm waagrecht zur Seite. Dimitri sah seine gespreizten Finger. Ein Mann hatte sich genähert. Im Vorbeigehen sah Dimitri kurz in dessen erstauntes Gesicht. Er war stehengeblieben, wie festgewurzelt, angesichts dieser Geste…