Pepi

Roman von Edi Goller

„Wenn ich lesen kann, weiß ich, dass ich endlich ich sein kann. Ganz ich selbst. Ohne Grenzen.“
Die Dienstmagd Pepi ist ein rebellischer Freigeist, der sich so gar nicht in die Rolle fügen will, die den weiblichen Dienstboten in der Biedermeierzeit zugedacht war, und ihr Hang zu Schabernack beschert ihr bald den Beinamen „die verrückte Pepi“.
Ihre große, hoffnungslose Liebe zu Heinrich, dem Sohn des Hausherrn, lebt sie in Briefen aus, die sie jedoch nie abschickt. Heinrich eröffnet ihr eine neue Welt – die Welt der Bücher, der Poesie, der Fantasie, die ihr die Realität erträglicher macht.
Die beginnende Frauenbewegung ermutigt Pepi schließlich zum entscheidenden Schritt in ein neues Leben.

Leseprobe

Mödling, April 1902

„Und wo ist Pepi nun, zum Kuckuck?“
Kaum waren ihr die Worte entschlüpft, war die alte Dame auch schon entsetzt darüber, dass sie sich so derart hatte hinreißen lassen. Pepi – sie war schuld daran. Immer schon hatte dieses Mädchen sie aus der Fassung gebracht. Immer wieder aufs Neue. Durch ihre verrückten Einfälle. Durch ihren offensichtlichen Unwillen sich anzupassen. Durch das Gerede, in das sie den Haushalt brachte. Von Anfang an war das so gewesen. Sie hatte insgeheim gehofft, dass der Umzug vom großen Haus in Wien in die kleine Villa in Mödling Pepi irgendwie zähmen könnte. Nur sie und die Köchin waren vom Personal des früheren Haushaltes übrig geblieben. Sie hatte mitkommen dürfen. Sie hatte ihre Stellung behalten. Dafür hätte dieses Mädchen schon etwas dankbarer sein können.

Als es vorhin geklopft hatte an der Tür, war sie in ihrem Lehnsessel hochgeschreckt. Sie konnte nicht fassen, dass sie nach dem Frühstück noch einmal eingenickt war, griff mit beiden Händen nach den Armlehnen und richtete sich auf. Rasch nahm sie die Zeitung, die neben ihr auf einem kleinen Beistelltisch lag. Wer immer auch geklopft hatte, sollte nicht bemerken, dass sie geschlafen hatte. Es konnte zwar ohnehin nur eine der beiden Bediensteten sein, dennoch – auch sie mussten das nicht wissen. Erst als die Zeitung aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag, rief sie „Herein!“. Die Tür öffnete sich und die beleibte Gestalt der Köchin in ihrer gestreiften Schürze rauschte herein. Sowohl ihr Schritt als auch ihre Miene waren höchst aufgebracht.„Was gibt es denn, Berta?“„Sie wollten Rote-Rüben-Salat zum Fisch, gnädige Frau“, stieß die Köchin hervor. „Und den wird es nicht geben, wenn die Pepi nicht bald auftaucht, um die Rüben einkaufen zu gehen. Ohne rote Rüben kein Salat!“Sie stemmte beide Hände in die Hüften und schnaufte empört.„Wo ist Pepi denn?“Die Arme der Köchin sanken herab. „Sie haben sie nicht zu einer Besorgung weggeschickt?“, fragte sie erstaunt.„Aber nein“, erwiderte die alte Dame. „Ich habe Pepi heute noch gar nicht gesehen. Das Frühstück haben doch Sie selbst mir heute gebracht, Berta!“„Da dachte ich noch, Sie hätten sie vielleicht fortgeschickt“, sagte die Köchin nachdenklich.„Wie gesagt, das habe ich nicht.“ Die alte Dame strich die Zeitung auf ihrem Schoß glatt.Auf Bertas Stirn erschienen zwei waagrechte Falten.„Ob sie einen Spaziergang gemacht und sich verlaufen hat? Wir sind doch noch nicht lange hier und sie kennt sich noch nicht so gut aus in dieser Stadt.“Sie schien mehr ratlos als zornig zu sein. Besorgnis machte sich breit auf ihrem runden Gesicht.„Wahrscheinlich wird es auch so sein“, meinte die alte Dame und seufzte. „Vermutlich hatte sie noch nicht genug Zeit, die Gegend zu erkunden in den zwei Wochen, die wir jetzt hier wohnen. Trotzdem ist es unentschuldbar, einfach fortzugehen und nicht Bescheid zu sagen – aber das sind wir ja von Pepi gewohnt …“Die Köchin straffte ihre Haltung.„Oh nein, Zeit dafür blieb der Pepi wirklich nicht – wie denn auch? Sie hatte so viel Arbeit mit dem Umzug. Das ganze Auspacken, Einschlichten, Wegräumen und so weiter. Ich war mit Küche und Keller beschäftigt – auch nicht leicht, wenn man plötzlich alles selbst machen muss. Die Pepi war ganz allein mit all der restlichen Arbeit. Mit allem.“Der alten Dame wurde das Lamento langsam zu viel. Der Ton der anderen war ihr gegenüber nicht angebracht. Was sie sagte, klang nach Kritik – die stand der anderen weder zu noch wollte sie diese hören. Sie war doch selbst diesen kleinen Haushalt noch nicht gewohnt – kein Wunder, wenn man die kurze Zeitspanne und ihr Alter bedachte. War es ihre Schuld, dass der Haushalt in Wien hatte aufgelöst werden müssen? Was hätte sie denn mit all den Dienstboten tun sollen? In diesem Haus hatten sie keinen Platz.Ihr wurde bewusst, dass sie Pepi früher oft nur in der Früh gesehen hatte, wenn sie das Frühstück brachte, und dann noch mittags und abends, wenn sie die Speisen auftrug oder abräumte. Auch wenn sie sie fortschickte zu kleinen Besorgungen – zum Friseur um Haarwasser oder in die Apotheke, um ihr Riechfläschchen aufzufüllen oder um Eibischteig zu holen, den sie so liebte, oder irgendetwas anderes. Ansonsten war Pepi den ganzen Tag mit Arbeiten beschäftigt gewesen, die der gut eingespielte Haushalt in dem alten, vierstöckigen Haus mitsamt der Werkstätte so mit sich brachte. Sie verlief sich sozusagen in den vier Stockwerken.Aber hier, in diesem neuen Haushalt, lebten sie viel enger zusammen. Hier wurden nun plötzlich Entscheidungen an sie herangetragen, die sie nicht zu treffen gewohnt war. Und schon gar nicht in dieser Art. Die Erinnerungen an das große Haus in Wien mit allen seinen vertrauten Bewohnern kamen ihr in den Sinn und waren durchaus schmerzhaft.„Und was soll ich jetzt machen zum Fisch, wenn die Pepi nicht bald kommt?“, fragte nun die Köchin, der die Pause offenbar zu lange dauerte.Die alte Dame überlegte. „Sie haben sicher Erdäpfel. Machen Sie Erdäpfelsalat, Berta.“„Fisch mit Erdäpfeln UND Erdäpfelsalat?“ Die Köchin zog die Mundwinkel nach unten.Und genau in diesem Augenblick verlor die alte Dame ihre Contenance.„Und wo ist Pepi nun, zum Kuckuck?“Die Köchin schwieg, zuckte die Achseln und schaute nur.„Kein Salat!“ Mit dieser Entscheidung und einer müden Handbewegung beendete die alte Dame das Gespräch und lehnte sich erleichtert zurück, als Berta sich umdrehte und den Raum verließ.Sie ließ ihren Blick durchs Zimmer wandern. Er fiel auf ihr Portrait, das neben dem ihres Mannes über dem Sofa hing. 27 war sie damals gewesen, als es gemalt wurde. Damals war sie noch die schöne Lisbeth gewesen …

Das Mittagessen trug Berta mit verweinten Augen auf und die alte Dame zog daraus ihre Schlüsse und vermied es, nach Pepi zu fragen. Sie aß den Fisch und die Erdäpfel ohne Salat und hing ihren Gedanken nach. Und die wurden immer ärgerlicher. Was war das für ein Spiel, das Pepi sich da erlaubte? Wer machte nun ihr Bett? Wen sollte sie um Besorgungen schicken? Wer würde das Haus sauber halten und ihr die Zeitung bringen?Sie legte sich eine gewaschene Strafpredigt zurecht und feilte sie in Gedanken aus. Und dabei fielen ihr wieder Pepis verrückte Streiche ein, die jedesmal wochenlang Gesprächsthema im Haus in Wien gewesen waren. Mein Gott, was hatte dieses Mädchen doch für Unsinn im Kopf! Wie war ihr all das nur eingefallen? Die meisten hatten gelacht darüber – ihre Söhne Heinrich und Richard. Auch der kleine Paul. Sogar ihr Mann hatte nach anfänglichem Ärger geschmunzelt. Nur sie nicht. Sie war peinlich berührt, denn sie wusste genau, dass die Dienstboten es weitertrugen. Es wurde im Bezirk darüber geredet. Die „verrückte Pepi“ war in aller Munde. Das war ihr nicht recht, denn sie hatte jahrelang so viel Mühe aufgewendet, nach ihrer Heirat dem Haushalt etwas Eleganz zu verleihen. Ihr Mann war mit seiner Schmiedewerkstätte schließlich k&k Hoflieferant gewesen. Darauf war sie stets mehr stolz gewesen als er selbst. Das rechtfertigte schon den Wunsch nach etwas mehr Glanz und Stellung im gesellschaftlichen Leben. Da musste man schon etwas mehr Wert auf Benehmen und Stil legen. Pepis Verhalten und das Gerede der Leute waren ihr daher mehr als unangenehm, und sie empfand es als persönlichen Affront.

Auch das Abendessen trug Berta auf. Die alte Dame hatte sich Grießkoch mit viel Zimt und Zucker gewünscht, und als die Köchin das Tablett auf den Tisch vor sie hinstellte, sah sie, dass unter deren geröteten Augen auch noch dunkle Schatten lagen.„Pepi ist noch immer fort?“, fragte sie daher.Sofort begann Berta zu heulen, als hätten diese Worte sämtliche Schleusen geöffnet. Sie versuchte etwas zu sagen, aber es gelang nicht. So schüttelte sie einfach hoffnungslos den Kopf und lief schluchzend aus dem Zimmer.Die schöne Lisbeth sah bedauernd auf den Teller, auf dem gelbe Augen von zerlassener Butter die Zimt-Zucker-Mischung wie eine Sonnenblume aussehen ließen. Dann erhob sie sich, ging zur Türe und rief nach der Köchin. Berta erschien am Ende des Ganges, wo die Küche lag.„Berta“, sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen beschwichtigenden Klang zu verleihen, „wissen Sie noch, als Pepi von einem dieser neuen Automobile angefahren wurde und sich den Arm gebrochen hat? Erinnern Sie sich daran? Es muss wohl schon mehr als ein Jahr her sein.“Die Köchin stand wie angewurzelt, starrte sie an und schlug sich dann die Hände vors Gesicht.„Nein, nein, Berta“, fügte sie schnell hinzu, „ich will nicht andeuten, dass ihr etwas Schlimmes widerfahren ist! Ich will nur sagen, dass sie damals von dem Herrn, dem das Automobil gehörte, ins Spital gebracht worden ist. Erst am nächsten Tag kam die Nachricht. Erinnern Sie sich? Vielleicht ist diesmal etwas Ähnliches geschehen – sie muss sich ja nicht unbedingt etwas gebrochen haben …“Bertas Schluchzen ließ sie keine Antwort erwarten.„Ich bin jedenfalls dafür“, schloss die schöne Lisbeth, „dass wir nun schlafen gehen. Morgen wird Pepi wieder da sein – Sie werden schon sehen.“„Schlafen?“ Die Köchin riss die Augen auf und sah regelrecht empört drein. „Ich werde die ganze Nacht kein Auge zutun! Die arme Pepi! Das arme Kind!“„Sie ist kein Kind mehr!“, entgegnete die alte Dame mit fester Stimme. „Sie kann sich schon helfen!“Damit kehrte sie zu ihrem Abendessen zurück. Sie aß es jedoch, ohne den feinen Duft von Zimt so richtig zu genießen, und ihre Gedanken drehten sich um Pepi.Wie war das damals gewesen, als Pepi nicht zurückkam von einer Besorgung? Nach zwei Tagen hatte ein Herr sie zurückgebracht mit seinem Automobil – derselbe, in dessen Wagen sie gelaufen war. Es war nicht lange nach dem Tod ihres Mannes, daran erinnerte sie sich genau. Sie hatte damals keine Besuche empfangen, doch der Herr war wiedergekommen. Mehrmals sogar. Anfangs hatte sie sich zu dem Gedanken verstiegen, dass die Besuche ihr selbst galten, doch sie musste feststellen, dass er nur kam, um Pepi einzuladen und sie als deren Hausfrau um Erlaubnis zu fragen. Das war mehr als erstaunlich gewesen und war wohl dem schlechten Gewissen des Herrn zuzuschreiben. Warum sonst hätte dieser doch sicherlich wohlhabende Mann ein Dienstmädchen einladen sollen?Wie alt war Pepi eigentlich? Sie versuchte, es nachzurechnen. Es gelang nicht. Auch wusste sie nicht, wie lange sie bei ihnen gewesen war. Mit knapp 16 war sie ins Haus gekommen und sie musste doch schon mindestens 15 Jahre bei ihnen sein. So richtig hatte sie nicht auf sie geachtet, als sie erwachsen geworden war. Pepi hatte die Arbeit getan, die ihr zugeteilt wurde. Von der Köchin hauptsächlich. Manchmal auch von ihr selbst. Sonst hatte sie selten mit ihr geredet. Ob ihre Arbeit schwer gewesen war? Doch sicher nicht.Sie würde schon wiederkommen.

*

2

Die alte Dame griff mit beiden Händen prüfend über ihr ordentlich aufgestecktes Haar und ließ danach ihre Finger über die langen Smaragd-Ohrgehänge gleiten, die sie stets trug, auch wenn selten jemand zu Besuch kam. Sie lehnte sich wohlig satt im Lehnsessel zurück und ließ ihren Blick durch den kleinen Salon ihres Hauses wandern. Die Sonnenstrahlen des frühen Nachmittags reichten weit über den Teppich und nicht nur bis zum Fensterbrett wie im alten Haus in Wien. Viel länger hell blieb es hier in diesem Raum als in dem Salon in Wien, wo die Sonne wegen der Enge der Gasse bald verschwand, um die nächste Häuserschlucht zu erhellen. Angenehm kühl war es hier – auch an heißen Tagen – und hell dazu.Dieser Raum war um vieles kleiner als der alte. Darum hatte sie auch nicht alle Möbel mitnehmen können beim Umzug, aber die Auswahl hatte sie gut getroffen. Der kleine Sekretär mit der Schreibklappe, den sie so liebte, stand genau zwischen den Fenstern zur Straße. Sie schrieb zwar nicht mehr oft, aber sie betrachtete ihn gerne. Er war das schönste und wertvollste Möbelstück aus dem Haus im 1. Bezirk. Ihr Mann hatte ihn ihr geschenkt. Damals hatte sie noch Einladungen geschrieben, denn damals hatte es noch Abendessen mit Gästen gegeben. Und feinem Porzellan.Zu dieser Zeit war die Familie aber auch noch viel größer gewesen. Ihr Mann hatte noch gelebt. Sie war noch die schöne Lisbeth gewesen, und ihre Söhne Richard und Heinrich – beide schon junge Männer – waren auch oft dagewesen. Damals. Und Paul. Ihr Jüngster. Paul war ihr geblieben. Nun studierte er schon und würde später in einem der beiden Häuser am nördlichen Stadtrand von Wien wohnen, die noch ihr Mann für seine Söhne gebaut hatte. Wie gut, dass Paul hin und wieder kam, um sie zu besuchen. Gut, dass ihr wenigstens einer geblieben war.Es fiel ihr leicht, sich an das schmale, hohe Haus am Tiefen Graben zu erinnern – mit seiner schweren Eisentür im Erdgeschoß, die schon das Handwerk der Werkstätte dahinter ahnen ließ: eine Kunstschmiede, die das Zeichen des k&k Hoflieferanten führen durfte.Sie seufzte.Immer weniger waren sie geworden in der Familie. Nach dem Tod ihres Mannes war es ihr nicht erspart geblieben, die Werkstätte im Haus aufzulösen, weil der Meister fehlte, und die Söhne, die in seine Fußstapfen hätten treten können. Das war nicht angenehm gewesen, aber eine Notwendigkeit. Die Gesellen und Lehrlinge mussten sich andere Stellen suchen. Schließlich blieben nur sie selbst, die Köchin, der Kutscher und Pepi übrig, denn das Stubenmädchen hatte sich schon frühzeitig um eine andere Arbeit umgesehen.Und schließlich hatte sie das Haus verkauft und ein anderes, kleineres in Mödling erworben. Eine kleine Villa in Kaisergelb. Geborgen lag sie in einer stillen Straße zwischen anderen niedrigen Häusern, mit einem geräumigen Garten dahinter, einem winzigen Teich und einer ausladenden Trauerweide, unter der sie an einem kleinen, weißen Tisch Tee trinken konnte. Dieses Detail hatte den Ausschlag gegeben. Sie war also schließlich zurückgekehrt in die kleine Stadt, in der sie selbst aufgewachsen war – auch wenn aus ihrer eigenen Familie keiner mehr hier lebte.Den Kutscher hatte sie entlassen, als sie Wien verließ, aber die Köchin und Pepi hatte sie mitgenommen. Die Köchin, weil sie den Haushalt führen konnte und kochte und Pepi für den Rest.Pepi.Mein Gott – Pepi. Wo die jetzt wohl war?Das Mittagessen war köstlich gewesen. Berta kochte noch immer gut, obwohl sie auch schon in die Jahre kam. Suppe, Hauptspeise, Nachspeise – so wie früher. Manches war wie früher, anderes nicht. Pepi jedenfalls war nicht mehr da – sie war einfach verschwunden und nicht wiedergekommen. Seit fast zwei Wochen schon.Die alte Dame griff nach der kleinen, bauchigen Kristallkaraffe, die auf dem Tischchen neben ihrem Sessel stand, und schenkte sich ein winziges Glas Likör ein. Wie immer nach dem Mittagessen, bevor sie für eine Stunde in ihrem Sessel döste. Man musste Gewohnheiten zelebrieren – ein gutes Mittel, sich Wohlgefühl zu verschaffen, zu beruhigen und Normalität vorzutäuschen. Selbst, wenn Vieles nun ganz anders war.

Gerade als sie das Glas an die Lippen führte, klopfte es und sofort danach ging die Tür auf und die Köchin kam herein. Sie trug eine große Schachtel.„Gnädige Frau, ich habe lange überlegt, aber ich glaube, sie sollten das hier bekommen“, sagte sie. Ihre Stimme klang sehr entschlossen.„Was ist das, Berta?“Die alte Dame gab ihrer Stimme einen etwas indignierten Klang, um zu zeigen, dass sie es nicht schätzte, in dieser Stunde der Ruhe gestört zu werden.„Das sind Briefe – eine ganze Menge Briefe. Pepi hat sie geschrieben. Es sind Briefe, die sie offenbar nie abgeschickt hat.“„Und woher kommen die? Pepi ist schon seit fast zwei Wochen fort.“„Das Mädchen, das sie eingestellt haben, nachdem Pepi nicht mehr zurückgekommen ist“, die Köchin wischte sich die Augen, „also die Marie-Luise und ich, wir haben gestern Pepis Zimmer ausgeräumt. Damit die Marie-Luise endlich einziehen kann. Und da haben wir in einer Kiste unter der Bettwäsche diese Briefe gefunden.“„Unter der Wäsche?“ Die alte Dame ließ das Glas sinken.„Unter der Wäsche.“„Es ist nicht recht, die Briefe anderer zu lesen, Berta!“Die alte Dame hob das kleine Glas wieder an die Lippen, trank es aus und hielt es der Köchin entgegen. Doch die hielt weiter die Schachtel und machte keine Anstalten, danach zu greifen.„Das weiß ich, gnädige Frau. Aber ich habe die Pepi doch gerngehabt und mir solche Sorgen gemacht, als sie plötzlich sang- und klanglos verschwunden ist. Nichts hat sie mitgenommen …“„Es ist mir genauso unverständlich – sie war doch immer da. Sie hatte es doch gut …“„Na ja, sie hat von Anfang an gearbeitet wie ein Dienstbote – und dabei hat sie zur Familie des Hausherrn gehört.“„Nur sehr entfernt, Berta, das haben doch alle gewusst. Und wir haben sie schließlich aufgenommen, als sie allein dastand.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Hinter Pepis Geschichte gibt es eine weitere Geschichte, die zum Entstehen dieses Buches geführt hat. Sie begann in meiner Kindheit und kam gänzlich unerwartet zu einem späteren Zeitpunkt ans Tageslicht.

Als ich noch ein Kind war, erzählte mir meine Mutter von den lustigen Streichen der „verrückten Pepi“, einem Dienstmädchen im Haus ihres Großvaters, der es als Kunstschmied in Wien zum k&k Hoflieferanten gebracht hatte. Meine Mutter kannte die Streiche aus Erzählungen ihres Vaters, der als jüngster Sohn der Familie im Haus in Wien aufgewachsen war. Ich liebte diese Geschichten und bat immer wieder darum.Jahrzehnte später fand ich im Nachlass meiner Tante ein altes Schulheft. Nur wenige Seiten waren beschrieben darin – allerdings in Kurrentschrift und die konnte ich nicht lesen. Es kostete mich einige Zeit, mir im Internet diese Fertigkeit anzueignen, aber es war die Mühe wert. Ich fand heraus, dass eine Großtante meiner Mutter in diesem Heft begonnen hatte, die Familiengeschichte aufzuschreiben.Ganz besonders fesselte mich, dass eine gewisse Josephine erwähnt wurde, die man Pepi rief. Sofort fielen mir wieder die Streiche der „verrückten Pepi“ ein. Hier konnte ich nun lesen, dass Pepi keineswegs nur Dienstbote war, sondern eine entfernte Verwandte aus dem Waldviertel, die mit etwa 16 Jahren als Vollwaise von der Familie in Wien aufgenommen wurde.

Pepis Streiche sind also wahr – sie wurden mündlich überliefert. Vom Großvater an meine Mutter und von ihr an mich. Wahr ist auch, dass viele Briefe in einer Wäschekiste gefunden wurden, nachdem Pepi in Mödling sang- und klanglos verschwand. Auch das konnte ich im Heft – wenn auch mühsam – entziffern. Mehr war nicht in dieser Chronik zu lesen, die bald darauf abbrach und ganz offensichtlich nie fertiggestellt wurde. Die Geschichte ließ mich jedoch nicht los. Was passierte mit Pepi? Ich begann zu recherchieren und Pepis Streiche aufzuschreiben. Dann schrieb ich Briefe, wie sie ein weiblicher, romantischer Freigeist – und das war Pepi zweifellos – damals, in der Biedermeierzeit in Wien, geschrieben haben könnte.

Die Geschichten rund um Pepi, die schrittweise und zufällig in meine Hände gelangten wie Stücke eines Puzzles, trugen dazu bei, dass Pepi in meinem Kopf mehr und mehr Gestalt annahm. War mein Bild von ihr richtig? Ich wusste es nicht. Doch dann, eines Tages, entdeckte ich bei einem meiner Streifzüge durch die Wiener Flohmärkte eine Bleistiftzeichnung einer jungen Frau aus der Biedermeierzeit. Die Augen, der Gesichtsausdruck, die Neugier in ihrem Blick, die Haltung – das ist Pepi, dachte ich. Genauso stelle ich sie mir vor. Ich stellte die Zeichnung auf meinen Schreibtisch und beschloss, Pepis zweite Welt ernst zu nehmen und ihr im Buch letztlich ein Leben zu geben, wie ich es ihr gewünscht hätte.

Edi Goller