Peter – Central Park, 12 Uhr 10
Frühlingserzählungen
Frühling in Wien, New York und in einem Kärtner Hochgebirgstal bilden den Rahmen für fünf verschiedene Erzählungen, in denen die Protagonisten jeweils eine überraschende Wende in ihrem Leben erfahren – so wie auch der Frühling stets ein Beginn ist.
Leseprobe
„Hi – wie heißt du?“
„Ich heiße Lisa Marie – und du?“„Ich bin Peter“. „Es gibt nicht mehr viele Peter. Den Namen hört man nicht mehr oft. Er klingt wie von früher.“ „Das passt zu mir.“ „Wie meinst du das?“ „Ich hätte früher zur Welt kommen sollen.“„Warum denn?“ „Wer weiß, wenn meine Mutter jünger gewesen wäre, dann wäre ich vielleicht ohne Down Syndrom auf die Welt gekommen.“
Darauf wusste Lisa Marie nichts zu sagen. Sie betrachtete eingehend das Sandwich in ihrer Hand. Um Zeit zu gewinnen, bog sie es an einer Ecke mit einer Fingerspitze auseinander und studierte den Inhalt. Schinken, Käse, Salat, Gurken. Nur wenig Mayonnaise. So wie sie es mochte.
Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, sich zu ihm auf die Bank zu setzen. Die anderen Bänke in der Nähe waren allesamt besetzt gewesen an diesem schönen Frühlingstag und sie hatte kurz überlegt, ob sie noch weitergehen sollte, als sie ihn da sitzen sah – an einem Ende der Bank, die sonst leer war. Ihre Füße hatten geschmerzt in den neuen Schuhen und darum hatte sie sich zu ihm gesetzt. Auf ein Gespräch war sie nicht vorbereitet, aber als sie sich setzte und seinen unbefangenen, strahlenden Blick sah und sein erfreutes „Hi!“ hörte, ahnte sie gleich, dass es wahrscheinlich nicht zu vermeiden war. Sie nahm sich vor, gelassen zu bleiben und sich ihre Unsicherheit ihm gegenüber nicht anmerken zu lassen. Sie hatte sich noch nie mit einem Menschen mit Down Syndrom unterhalten. Sie selbst hätte es nicht erwähnt, aber er hatte es getan und die Selbstverständlichkeit, mit der er es getan hatte, machte sie befangen.
Die Bank lag in der Sonne und Lisa Marie schaute über die leicht abfallende Wiese bis zum Teich dahinter. Es war einer der kleineren Teiche in Central Park, nicht weit von der Fifth Avenue. Bei schönem Wetter verbrachte sie gern ihre zweistündige Mittagspause hier, denn das Gebäude, in dem sie arbeitete, lag nur eine Straße entfernt.
Normalerweise schlug sie einen anderen Weg ein – einen, der zu Bänken führte, die weiter von dem Eingang entfernt lagen, durch den sie immer kam – dort, wo es ruhiger war. Sie wollte sich gern ein wenig die Füße vertreten, bevor sie sich irgendwo niederließ, um ihr Sandwich zu essen. Doch heute trug sie diese neuen, spitzen Pumps und schon nach einem kurzen Stück Weges drückten sie an den kleinen Zehen. Darum war sie hier gelandet.Lisa Marie biss von ihrem Sandwich ab und sah aus den Augenwinkeln, dass sein Gesicht ihr noch immer zugewandt war. Was tun, wenn man nicht weiß, was man sagen soll? „Mach dem anderen ein Kompliment“ – das war einer der Ratschläge gewesen, die man ihr gegeben hatte, als sie in die Vereinigten Staaten gekommen war, um hier zu arbeiten und zu leben. Schnell hatte sie festgestellt, dass hier eine Kultur der Komplimente herrschte, die ihr sowohl unbekannt, als anfangs auch peinlich war. So ganz anders als in Österreich. Sie hatte versucht, sich dem zu entziehen und bald bemerkt, dass sie mit der Zeit seltsame Blicke erntete, wenn sie Komplimente bewusst überhörte oder verlegen weglachte. Arbeitskollegen schienen sich zurückzuziehen und enttäuscht zu sein. Das hatte sie ihre Zurückhaltung überdenken lassen. Sie lernte, solche Komplimente mit einem Lächeln anzunehmen – auch wenn sie ihr übertrieben schienen, und später lernte sie auch, sie zurückzugeben. Sie gewöhnte sich daran. Es gefiel ihr mehr und mehr. Ihrer Kollegin, mit der sie ein Büro teilte, hatte sie eines Tages die Frage gestellt: „Wie komme ich hier am besten ins Gespräch, Emily?“ „Du machst ein Kompliment. Kein falsches. Such dir etwas aus an der betreffenden Person, um die es geht. Jeder Mensch hat irgendetwas, das dir gefallen kann. Du musst nur danach suchen.“ „Und wenn der andere nun nichts hat, was mir gefällt?“ „Dann trägt er oder sie vielleicht etwas, was hübsch ist. Oder lächelt besonders charmant. Such nur danach. Du findest schon etwas.“
Das fiel ihr nun ein und sie wandte sich dem jungen Mann neben ihr zu. Er war jung, zweifellos, aber es war ihr nicht möglich, sein Alter zu schätzen. Auf seinem Kopf trug er eine Baseballkappe, die seine Stirn verbarg. Sein rundes Gesicht strahlte noch immer und sein Lächeln hielt seinen erwartungsvollen Ausdruck. Es ist wie ein Buch, dachte sie – ein Buch, das sich absichtlich geöffnet hat, damit ich darin lesen kann. Es war nicht schwer, etwas zu finden, worüber sie ihm ein Kompliment machen konnte. Seine Augen waren auffallend hell und grün, wie sie es noch selten gesehen hatte. Dennoch entschied sie sich für ein anderes Kompliment.
„Du solltest dir dein Lächeln patentieren lassen, Peter“, sagte sie, um einen leichten Tonfall bemüht, „es ist ansteckend.“ Er lachte fröhlich auf und legte den Kopf in den kurzen Nacken. „Das sagen alle!“ Sie entschied sich, bei diesem neckenden Ton zu bleiben. „Hast du dafür ein Rezept? Kann ich das auch lernen?“ Wieder lachte er, es klang fast übermütig. „Nein, kein Rezept. Naturtalent.“ Sie kicherte überrascht. Was für eine gute Antwort, dachte sie. Er lehnte sich weit nach vor und sah ihr von unten verschmitzt ins Gesicht. „Du bist das erste Mal hier“, fuhr er fort, „ich habe dich noch nie hier gesehen.“ „Da hast du recht, diesen Weg bin ich wirklich zum ersten Mal gegangen“, erwiderte sie, „aber im Central Park bin ich oft. Ich arbeite in der Nähe und habe eine lange Mittagspause.“ „Dann komm doch öfter hierher. Ich bin immer hier.“ „Du bist immer auf dieser Bank, meinst du?“ „Ja.“ „Aber doch nicht bei jedem Wetter?“ „Warum denn nicht?“ Er griff in den prallen Rucksack, der neben ihm auf der Bank stand und zog einen zusammenschiebbaren Regenschirm heraus. Den hielt er ihr hin und schwenkte ihn. „Und eine Regenjacke habe ich auch“, fügte er hinzu. „Und was ist sonst noch in deinem Rucksack?“, fragte sie. „Schulbücher“, antwortete er. „Und Dinge.“ Lisa Marie betrachtete ihn und bemühte sich erneut, sein Alter zu schätzen. Das war nicht leicht. Er konnte 17 sein. Vielleicht aber auch viel älter. „Verräts du mir, wie alt du bist, Peter?“ „Ich bin 23. Ich weiß, das ist schon ein wenig spät für die Schule, die ich gerade mache, aber nicht für mich. Ich habe lange nicht in die Schule gehen können und jetzt hole ich das nach.“ Er ist 23, dachte sie – nur fünf Jahre jünger als ich. „Und warum hast du lange nicht zur Schule gehen können?“ „Ich habe ein paar Herzoperationen gehabt“, sagte er so leichthin, als spräche er vom Wetter, „dabei habe ich die halbe Welt kennengelernt. Erst Los Angeles, dann Birgmingham und zum Schluss München. Jetzt geht es mir wieder gut und ich kann in die Schule gehen.“ Lisa Marie versuchte, sich ihre Erschütterung nicht anmerken zu lassen und auf seinen leichten Tonfall einzugehen. „Mein Gott, da hast du aber schon viel hinter dir! Aber sag mir – es ist gerade einmal halb eins. Ist deine Schule heute schon aus?“ „Oh nein, sie beginnt erst um vier. Es ist eine besondere Schule – für Leute, die schon älter sind und auch für solche, die tagsüber arbeiten. Und für mich.“ „Ich verstehe. Und hier wartest du, bis die Schule beginnt?“ „Ich komme jeden Tag gegen elf Uhr auf die Bank hier“, sagte er. „Ich warte auf Leute, die hier ihre Mittagspause verbringen.“ Sie schmunzelte: „So wie ich?“ „Ja. Ich unterhalte mich gern.“ „Tust du es oft?“ „Oft gehen die Leute vorbei, manche wollen nicht reden und gehen wieder, andere bleiben sitzen, aber stumm. Doch es gibt auch welche, die antworten und wenn die Gespräche gut sind, spielen wir auch manchmal ein Spiel.“ „Was für ein Spiel?“, fragte Lisa Marie und überlegte, ob er dieses Gespräch wohl auch gut fand. „Wir vergleichen, was wir in unseren Taschen haben.“ „Was?“ Sie lachte überrascht auf. Er grinste zufrieden. „Ich gewinne immer“, sagte er und der Stolz auf seinem Gesicht war nicht zu übersehen. Lisa Marie setzte sich so zurecht, dass sie sich ihm voll zuwenden konnte. Ihre Neugier war geweckt. „Wie geht das Spiel?“ „Du willst es spielen?“ „Zuerst will ich wissen, wie es geht.“ „Also – wir vergleichen, was wir in unseren Taschen haben. Frauen haben Handtaschen – da ist immer viel drin, Männer haben Hosen- und Sakkotaschen und ich habe meinen Rucksack. Wir vergleichen, was darin ist.“ „Und wer gewinnt?“ „Wer das interessantere Ding in seiner Tasche hat.“ „Und wer beurteilt das?“ „Ich nicht. Immer der andere – oder die andere“, erwiderte er und legte mit einem breiten Lächeln den Kopf schief. Lisa Marie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte noch mehr als eine Stunde Zeit. „Here we go“, sagte sie, „spielen wir. Gibt es Regeln?“ „Nur eine. Du darfst nicht in deine Tasche schauen – nur greifen.“ „Okay. Wer fängt an?“ „Immer der, der fragt. Also du.“ „Gut“, sagte sie. „Spielen wir.“