Schokolade und Stein

Roman von Edi Goller

Ein Sommer im Garten der Großmutter – voll Farben, voll Geschichten, voll Wunder…

Das größte Wunder ist die behutsame Freundschaft der fünfjährigen Cilli mit August Walla, der wegen seines Andersseins von allen anderen ausgegrenzt wird und später als herausragender Künstler weltweite Anerkennung erlangt.

Edi Gollers Roman nach einer wahren Geschichte schenkt uns auf berührende Weise ein Stück Kindheit zurück. Seine Botschaft der Toleranz und des Triumphs über die Verschiedenartigkeit zwischen den Menschen ist heute zeitgemäßer und dringlicher als je zuvor.

Buchcover Schokolade und Stein - Edi Goller

In der späten Nachkriegszeit treffen zwei einsame Geschöpfe für die Dauer eines Sommers in einem Garten aufeinander. Die beherzte fünfjährige Cilli und der abweisende und bedrohliche zwanzigjährige Gusti.

Cilli, ein Einzelkind, deren Mutter eben ein Kind verloren hat, verbringt den Sommer bei der Großmutter. Gusti, der in der Stadt als schwachsinniger Rüpel verspottet wird, wartet in diesem Garten auf seine Mutter, die der Großmutter im Haushalt hilft. Im späteren Leben wird er als einer der originellsten Art Brut Künstler Europas Berühmtheit erlangen. Im Garten will er nur seine Ruhe haben, um zu zeichnen und zu malen. Aber Cilli ist entschlossen, sich mit dem wortkargen Fremden anzufreunden.

Wird er ihren magischen Geschichten erliegen? Den Wundern, die sie sieht oder für ihn erfindet? Der Schokolade, die sie ihm schenkt?

Wird er seine Welt mit ihr teilen, in der Gefühle Farben haben und in der er Bäume, Wände, Steine, Kanaldeckel bemalt – und das Backblech der Großmutter?

Leseprobe

Auszug aus Kapitel 4:

Gusti war groß wie ein Berg und stark wie ein Pferd. Wenn er mit seiner Mutter in das Haus kam, trug er die Einkaufstaschen. Sie waren leer, wenn sie kamen, und oft schwer, wenn sie wieder fortgingen. Er ging stets zwei Schritte hinter seiner Mutter. Seine Oberschenkel waren dick, sodass er seine Schritte breitbeinig setzte. Das verlieh seinem Gang etwas Schwankendes und ließ ihn noch massiger wirken. Wenn er nicht gerade etwas trug, hingen seine Arme herab, als hätte er keine Macht über sie. Sein großer, runder Kopf war kahlgeschoren. Wegen der Läuse, sagte seine Mutter. Seine Augen lagen tief und starrten häufig. Ihr Ausdruck war nicht unfreundlich, aber auf der Hut. Sein Mund war auffällig klein in seinem großen Gesicht. Er bewegte ihn nicht oft, denn er sprach selten. Seine Mutter hieß Aloisia und wurde von allen, die sie kannten, Lois gerufen. Sie hatte ein schmales, langes Gesicht. Ein liebes Gesicht, fand Cilli. Aber herb. Mit vielen tiefen Falten darin. Zweimal in der Woche kam sie zur Großmutter, um ihr im Haushalt und im Garten zu helfen. Manchmal auch öfter. Lois war groß und hager und ging mit schleppenden Schritten und nach vorne geneigtem Oberkörper. Ihr Gesicht zeigte oft nur spärliche Mimik. Sie hatte den Gesichtsausdruck einer schwer geprüften Frau. Und das war sie wohl auch. Ein Vater war nie dagewesen für Gusti. Sie hatte ihr Kind alleine großgezogen. War alleine gewesen, als sie bemerkte, dass es nicht wie andere spielte, sich nicht wie andere benahm, schließlich nicht mit den anderen zur Schule gehen konnte. Gusti kam in die Sonderschule. Er lernte, Buchstaben zu malen, lernte, sie zu Wörtern zusammenzusetzen. Er bildete auch Sätze. Aber deren Sinn war oft nur ihm bekannt. Als er klein war und sich einen Vater wünschte, wie ihn die anderen Kinder hatten, lief in den beiden kleinen Räumen, die er mit seiner Mutter bewohnte, stets das Radio. Den ganzen Tag über wurde immer wieder von Adolf Hitler im Radio gesprochen. Da beschloss Gusti, dass Adolf Hitler sein Vater war. Von diesem Gedanken war er nicht wieder abzubringen. Er wusste nicht, wer Hitler war. Er wusste auch nicht, was er tat oder getan hatte. Das war ihm nicht wichtig. Er war sein Vater. Schluss.

Auszug aus Kapitel 5:

Cilli hatte ihn lange vom Dach aus beobachtet. Sie hatte gesehen, dass er ein Messer hatte. Sie hatte auch gesehen, dass er mit seinem Messer in das Stück Holz schnitt und darin herumbohrte. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Dieser Riese war anders als alle Menschen, die sie bis dahin kennengelernt hatte. Er war größer, er war dicker, er hatte zu kurze Hosen an, er schrie lauter. Vor allem schrie er, wenn es nichts zu schreien gab. Das war seltsam. Und interessant. Als sie ihn das erste Mal auf der Bank sitzen sah, hatte sie ihn sofort erkannt. Sofort hatte sie die Szene vor Augen, als er auf der Straße so erschreckend und laut geschrien hatte. Doch sie hatte sich auch daran erinnert, dass die Mutter ihn als still und sanft beschrieben hatte. Sie hatte gesagt, sie müsse keine Angst haben. Darum hatte sie ihn angelächelt. Und trotzdem hatte die Angst sie mit voller Wucht getroffen. Seit er sie mit seinem ersten Schrei so erschreckt hatte, dass sie dachte, sie müsse auf der Stelle sterben vor Angst, hatte sie ihn oft durch das Fenster beobachtet. Sie hatte die Vorhänge genutzt, um selbst nicht gesehen zu werden. Aber manchmal tat er so außergewöhnliche Dinge, dass sie die Vorsicht vergaß. Er hatte sie gesehen. Sie wusste es. Sie hatte sich ertappt gefühlt. Sie hatte auch beobachtet, wie sanft er ein Stück Schokolade aus der Hand der Großmutter entgegengenommen hatte. Er hatte es nicht sofort gegessen. Er hatte es an sein Hemd gedrückt. Hatte es danach auf der flachen Hand betrachtet. Wie einen Schatz. Schließlich hatte er es vorsichtig in seine Hosentasche gesteckt. Eine solche Sanftheit an diesem Riesen hatte sie nicht erwartet. Im Garten der Großmutter gab es Feen und auch Zwerge. Nun gab es auch einen Riesen darin. Sie kannte mindestens zwei Märchen von Riesen, die nicht schön waren.  Vielleicht sogar hässlich. Möglicherweise auch laut. Und doch waren sie gut. Halfen den Menschen in Not. Seine Mutter rief ihn Gusti. Das war ein Name für ein Kind. Ein guter Name. Sie wollte ihn einen guten Riesen sein lassen. Sie wollte ihn gernhaben. Sie wollte keine Angst mehr vor ihm haben. Darum schlich sie heimlich in seiner Nähe herum. Schielte um die Ecke. Kletterte auf das Dach. Sie musste vorsichtig sein. Die Großmutter durfte nicht sehen, dass sie auf das Dach des Gartenzimmers stieg, das samt einer kleinen Werkstätte an das Haus angebaut war. Daher stieg sie hinter der Hausecke auf das Rosenspalier, um daran hinaufzuklettern, bis sie auf das Dach steigen konnte. Sie vermied gewissenhaft die Dornen der Rosen, um nicht ihr Hemd zu zerreißen. Das Dach war flach und sie legte sich auf den Bauch und schob sich bis zur Dachkante vor. Diesmal schrie er nicht. Sie sah lange in seine Augen. Seine Augen waren nicht böse. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob seine Augen grau oder grün waren. Hell waren sie jedenfalls. Als seine Mutter nach ihm rief, zog sie den Kopf zurück.